Anthroposophische Medizin
Entwicklung durch Krankheit
Vielleicht erinnert sich der Eine oder Andere von Ihnen an einen kürzlich durchgemachten fieberhaften grippalen Infekt, wie er in der kalten Jahreszeit häufig vorkommt. Immer wieder erlebe ich die Überraschung von Patienten, die jahrelang gesund waren, über eine fieberhafte Erkrankung und das damit verbundene oft sehr quälende Krankheitsgefühl. Durch die Schmerzen und das mit der Erkrankung verbundene Leid werden wir ganz auf uns selbst zurückgeworfen. Unsere Möglichkeiten in der Welt tätig zu sein, sind reduziert oder gar nicht mehr vorhanden – wir sind arbeitsunfähig. Besonders dann, wenn wir Bettruhe halten müssen, das Fieber und die Schmerzen uns auch das Denken erschweren, kann für den Beobachter von außen der Eindruck entstehen, dass ein Stillstand in unserem biographischen Wirksamwerden eintritt. Dabei geschieht sehr viel in unserem Inneren. Fragen tauchen auf. Anfänglich solche wie: Was für eine Krankheit habe ich? Wie lange wird sie anhalten? Wie ist sie zu behandeln? Manche Menschen fragen sich darüber hinaus: Was hat diese Krankheit jetzt für einen Sinn? Warum bekomme gerade ich jetzt diese Krankheit?
Die materialistisch orientierte Naturwissenschaft
Die Anthroposophische Medizin
Dort, wo Fragen nach dem tieferen Grund und Sinn einer Erkrankung und damit deren biographischer Bedeutung auftreten, betritt man die Welt der anthroposophischen Medizin. Sie erweitert die naturwissenschaftliche Sichtweise durch ihr lebendiges Leib, Seele und Geist umfassendes und beschreibendes Menschenbild. Der Mensch wird damit in seiner ganzen Wesenheit, das heißt in seinem körperlichen Zustand, seinem Krankheitsprozess, seinem Befinden und den darüber hinausgehenden individuellen biographischen Fragen wahrgenommen. Die entscheidende und wesentliche Grundlage dieser Heilkunst ist das Menschenbild, das sich der anthroposophische Arzt mit der Menschenkunde Rudolf Steiners erarbeitet und das ihm geistige Haltung wird. Krankheit erscheint vor diesem entwicklungsorientierten Menschenbild nicht mehr vorrangig als Defekt, sondern als sinnvolle Entwicklungsaufgabe. Heilung kann als erfolgreiches Gelingen dieses Entwicklungsprozesses angesehen werden. Der Mensch ist nach der Krankheit nicht geheilt im Sinne einer Reparatur, sondern hat sich verändert, verwandelt, was die alten Ärzte restitutio ad integrum nannten. Es entsteht eine neue Integrität im Wesensgliedergefüge des einzelnen Menschen. Im Urbild sehen wir diese Geste in den Kinderkrankheiten, die ganz offensichtlich kindliche Entwicklungsschritte begleiten und regelhaft in Form einer restitutio ad integrum ausheilen.
Moderne Erkenntnisse und die Anthroposophie
Die Bedeutung eines erweiterten Menschenbildes
Wie notwendig ein erweitertes Menschenbild ist, zeigt sich auch an der aktuellen Diskussion über Präimplantationsdiagnostik (die Untersuchung von befruchteten Eizellen vor dem Einsetzen in die Gebärmutter) und über Sterbehilfe. Wirklich urteilsfähig kann hier nur werden, wer mehr sieht und anerkennt als die Defekte und Gebrechlichkeiten des physischen Leibes. Nur, wer die seelische und geistige Dimension des Menschseins gleichwertig zur körperlichen zu denken und wahrzunehmen lernt, wird die Würde des Menschen schützen können und vor Verirrungen, wie sie in der Zeit des Nationalsozialismus geschehen sind, sicher sein (Euthanasie durch Ärzte auf dem Hintergrund einer pseudowissenschaftlichen Einteilung von lebenswertem und unwertem Leben). Rudolf Steiner hat mit seinem Werk die Grundlagen für ein solches „Neues Denken“ gelegt. In der anthroposophischen Heilkunst wird dieses Denken tagtäglich an vielen Orten der Welt ganz konkret in der Begegnung zwischen Arzt, Therapeut, Pflegendem und Patient wirksam.